Pressemitteilung Referat für Kommunikation und Marketing

Interreligiöser Dialog betont das Gemeinsame

Albstadt/Sigmaringen.  Was bedeutet die Shoa, also die systematische Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus, heute für den Dialog zwischen den Weltreligionen? Welche Lehren lassen sich für die heutige Zeit daraus ziehen? Karl-Hermann Blickle, Vorsitzender der Stiftung Stuttgarter Lehrhaus für interreligiösen Dialog, hat zu diesen Fragen in der Technologiewerkstatt Albstadt-Tailfingen einen aufschlussreichen und inspirierenden Vortrag gehalten. Dieser bildete den Auftakt der diesjährigen Veranstaltungsreihe Interreligiöser Dialog, die die Hochschule Albstadt-Sigmaringen, die Musik Martinskirche Ebingen und die Stiftung Stuttgarter Lehrhaus gemeinsam organisieren.

Die Hochschule möchte mit diesem Engagement auch ihrem gesellschaftlichen Auftrag Rechnung tragen und einen Beitrag zu Frieden und Verständigung leisten. „Wir haben diese Reihe 2016 auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise initiiert“, sagte Rektorin Dr. Ingeborg Mühldorfer in ihrer Begrüßung. Damit habe man einen Kontrapunkt in der oft polemisch geführten öffentlichen Debatte setzen wollen. „Wir wollen zu mehr Wachsamkeit in unserer heutigen Zeit aufrufen“, sagte dazu Steffen Mark Schwarz, Kantor der evangelischen Martinskirche Ebingen.

Ausgangspunkt des anschließenden Vortrags von Karl-Hermann Blickle war das Gedenken an die Reichspogromnacht, in der am 9. November vor 80 Jahren überall in Deutschland die Synagogen brannten. „In der nationalsozialistischen Judenverfolgung und Judenvernichtungspolitik markierte dieses Ereignis einen Wendepunkt“, sagte Karl-Hermann Blickle. „Vor aller Augen und teilweise unter dem Beifall der Bevölkerung wurden Synagogen zerstört und Juden in Konzentrationslager entführt.“ Da es so gut wie keinen Widerstand gegeben habe, „werteten die Nazis das als Testfall und Freifahrtschein. Auch die Kirchen haben ihre Stimmen nicht erhoben“.

Auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs habe es lange kein öffentliches Schuldbekenntnis gegeben. „Schließlich war es die 1968er-Generation, die als Erste sehr massiv darauf hingewiesen hat, dass die Deutschen sich mit der Schulderinnerung beschäftigen müssen.“

Um zu untermauern, welchen Beitrag der interreligiöse Dialog für die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart leisten kann, zog Karl-Hermann Blickle ein Doppelgemälde der Jüdin Mina Gampel heran; die Künstlerin war ebenfalls anwesend. Das Bild zeigt links ein jüdisches Mädchen hinter einer Mauer im jüdischen Ghetto, das die Gefangenschaft der osteuropäischen Juden vor der Verschleppung in die Konzentrations- und Vernichtungslager symbolisiert. Doch das Mädchen bricht auf in eine neue Zukunft, die durch fallende Steine und das Miteinander dreier religiöser Würdenträger auf der rechten Seite des Bildes symbolisiert wird: „Rabbiner, Pfarrer und Imam stehen für sich, niemand strebt eine Vermischung der Lehren an“, sagte Karl-Hermann Blickle. „Aber ihre Bereitschaft zur Einheit in Vielfalt ist groß.“

In diesem Zusammenhang würdigte er die Flüchtlingspolitik Angela Merkels und bemängelte, dass „das ethische Verdienst dieser Politik in den Hintergrund gerät und die Belastungen überbetont werden“. Es habe seinen Grund, dass viele der Flüchtlingshelfer zugleich diejenigen seien, „die sich bereits seit Jahren auch in der Erinnerungskultur engagiert haben“.

Er appellierte an jeden einzelnen zu erkennen, dass aus neuer Begegnung auch neue Chancen entstehen könnten. Als Beispiel führte er an, dass Hasan Dağdelen zum diesjährigen Welttag jüdischer Kultur erstmals eine Führung in türkischer Sprache durch die Hechinger Synagoge angeboten habe. Er organisiert bei der Stiftung Stuttgarter Lehrhaus für interreligiösen Dialog Veranstaltungen zwischen jüdischen, christlichen und muslimischen Gruppen. Die muslimischen Teilnehmer, Anhänger der Gülen-Bewegung, hätten bei der Führung die Parallelen zu ihrem eigenen Verfolgungsschicksal erkannt. „Das hat zu einem Gefühl der Solidarisierung mit Juden geführt“, sagte Karl-Hermann Blickle. „Es waren vielleicht nur zehn Leute, aber so beginnt es.“

Bei der zweiten Veranstaltung des Interreligiösen Dialogs am Sonntag hielt Hasan Dağdelen einen in der heutigen politischen Großwetterlage sehr mutigen Vortrag zur Frage, was Muslime aus der deutschen Erinnerungskultur lernen können. „Viele Migranten aus muslimisch geprägten Ländern haben keinen direkten Bezug zur Shoa“, sagte Hasan Dağdelen. In Deutschland könnten sie lernen, ihre bisherigen Überzeugungen zu hinterfragen.

Hasan Dağdelen beschrieb anhand seiner eigenen Biografie eindringlich seinen persönlichen Prozess der kritischen Selbstreflexion. Als Enkel türkischer Gastarbeiter in Deutschland aufgewachsen, entschied er sich nach dem Abitur, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen – zum Leidwesen seines damals nationalistisch geprägten Vaters. „Doch Deutschland ist zu meiner Heimat geworden. Hier haben wir Freiheit, Demokratie und Zugang zu Bildung.“

Im Gegensatz zur Türkei, die den Völkermord an den Armeniern bis heute leugne, habe Deutschland sich mit seiner Schuld auseinandergesetzt und lebe heute eine gesunde und starke Erinnerungskultur. Die „Nichtaufbereitung der türkischen Geschichte“ habe hingegen fatale Konsequenzen. „Sie zieht sich aber wie ein roter Faden durch die türkische Geschichte.“ Die Herausforderung heute bestehe darin, trotz eigener falscher geschichtlicher Sozialisation und politischer Propaganda eine neue Perspektive einzunehmen. „Viele Flüchtlinge können sich nun zum ersten Mal mit der Shoa beschäftigen“, sagte Hasan Dağdelen. „Sie können dabei Zusammenhänge zu ihrer eigenen Verfolgungsgeschichte erkennen und sich mit dem jüdischen Schicksal solidarisieren.“

 

Weiterführende Informationen: Ziel der Vortrags- und Gesprächsreihe Interreligiöser Dialog ist es, die drei monotheistischen Weltreligionen Christentum, Judentum und Islam miteinander ins Gespräch zu bringen. Der Fokus liegt dabei nicht auf den theologischen Unterschieden der Religionen, sondern auf den ethischen Gemeinsamkeiten. „Wir wollen das gemeinsame Glaubensgut erkennen, ohne das Trennende zu übersehen“, sagt Karl-Hermann Blickle.